Dr. Heinrich Schmelzer


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Inkontinenz

Zwei Umstände sichern die Kontinenz, eine feste, aber geschmeidige Stuhlqualität und ein funktionierendes Abschlusssystem aus willkürlich und unwillkürlich innervierter Muskulatur, Sensoren in Haut und Gewebe und Reflexmechanismen die zentral kontrolliert werden (Kontinenzorgan).

Versagt dieses System, kann es zu Stuhlschmieren(Grad 1) oder zu ungewolltem Abgang von Gasen (Grad 1) und/oder flüssigem Stuhl (Grad 2) und/oder festem Stuhl (Grad 3) kommen. An diesen Symptomen orientiert sich die Schweregradeinteilung. Dazu werden die Häufigkeit ungewollter Abgänge und die Anzahl notwendiger Vorlagen/Tag bestimmt.

Der imperative Stuhldrang, der so unwiderstehlich ist, dass oft die Zeit nicht reicht, um es noch auf die Toilette zu schaffen, ist ein unbestimmtes Symptom, das nicht nur bei Durch- fällen auftritt, sondern auch beim Reizdarm-Syndrom (heftige Kontraktionen), bei Entzün- dungen des Enddarms, bei Zerstörung der sensiblen Analhaut (verspätete Wahrnehmung), bei einer Funktionsschwäche des äußeren Sphinkters, bei einem Elastizitätsverlust der unteren Rektumwand (Adaptationsreflex) nach operativen Eingriffen oder bei einem Reservoirverlust nach tiefer anteriorer Rektumresektion. Selten ist es Warnzeichen einer wachsenden Geschwulst im Rektum.

Imperativer Stuhldrang signalisiert eine drohende Überforderung des reflexgesteuerten Abschlusssystems. Auch Gesunde erleben ihn, wenn der Stuhldrang so lange unterdrückt wird, bis die Grenze der Adapatationsfähigkeit der Rektumwand an erhöhte Stuhlvolumina erreicht ist, der Öffnungsreflex permanent ausgelöst wird und ein Zurückhalten des Stuhls durch maximale Kontraktion des äußeren Schließmuskelsaufrecht kaum noch möglich ist.

Von Stressinkontinenz wird gesprochen, wenn die Undichtigkeit z.B. beim Bücken oder Recken oder sportlichen Aktivitäten auftritt.

Stuhlschmieren und gelegentlicher ungewollter Abgang von Winden sind meistens Zeichen eines fortgeschrittenen Hämorrhoidalleidens, einer zu dünnen Stuhlkonsistenz oder blähender Kost. Hier helfen eine Behandlung des Hämorrhoidalleidens und gezielte Umstellung von Ernährung und Essverhalten.

Schwerere Inkontinenzsymptomatik tritt immer dann auf, wenn das muskuläre Abschluss- system geschädigt ist, wenn die Wahrnehmung versagt (peripher oder cerebral), oder wenn das Reflexsystem und/oder seine zentrale Kontrolle gestört sind. Kombinationsformen sind häufig und machen die Diagnostik und die Wahl eines geeigneten Behandlungsverfahrens schwierig. Manometrie (u.a. Messung des analen Ruhe-und Kneifdrucks, der intrarektalen Druckveränderungen und des Öffnungsreflex) sowie elektromyografische und sonografische Untersuchungen können hier u.U. Klarheit schaffen.

Sensorische Inkontinenz

Typisch für eine gestörte periphere Sensorik sind die Inkontinenzsymptome beim Hämorrhoidalleiden, bei dem sich die empfindliche Analhaut (Anoderm), die uns das Gefühl für ankommenden Stuhl und dessen Qualität vermittelt, nach außen verschiebt, und der Rektumprolaps, bei dem das eingestülpte Rektum die Wahrnehmungszone verdeckt. Beim äußeren Rektumprolaps kommt erschwerend hinzu, dass der Schließmuskelapparat ständig überdehnt wird. Auch liegt oft gleichzeitig eine Beckenbodenschwäche vor.

Bei neurologischen Erkrankungen (Demenz, Alzheimer, Schlaganfall, Multiple Sklerose) ist die eingeschränkte cerebrale Wahrnehmung zunehmender Enddarmfüllung das auslösende Übel, d.h. die Betroffenen nehmen keinen Stuhldrang wahr und können nicht entsprechend reagieren.

Normalerweise sendet das Gehirn ständig unbewusst hemmende Impulse auf das Reflex- verhalten des äußeren Schließmuskels (Externusreflex). Betätigen wir den Schließmuskel, so werden diese hemmenden Impulse aufgehoben. Abhängig davon, inwieweit diese automa- tische Kontrolltätigkeit noch erhalten ist, kommt es bei neurologischen Störungen zu verschiedenen pathologischen Reaktionen.

Funktioniert die hemmende Kontrolle noch, fällt neben der Stuhlwahrnehmung auch der Externusreflex aus und es kommt zu spontanen Stuhlabgängen, sobald der automatische Öffnungsreflex durch ankommenden Stuhl getriggert wird (Kontinenzorgan).

Ist die hemmende Kontrolle des Externusreflex aufgehoben – so wie bei einer Querschnitts- lähmung, bei der alle Nervenleitbahnen, auch die, die hemmend wirken, unterbrochen sind – sperrt sich das Abschlusssystem infolge der erhaltenen Reflexaktivität gegen ankommenden Stuhl, so dass dieser sich im Enddarm anhäuft. Wird er nicht regelmäßig mit Hilfe eines Einlaufs entleert, tritt er entweder irgendwann explosionsartig aus, oder es bilden sich feste Kotballen, die zu groß sind, um  austreten zu können (Koprostase). An den Seiten weicht der Stuhl jedoch auf und läuft unkontrolliert aus dem After heraus, da der Öffnungsreflex ja aktiviert ist und sich die Gegenreaktion des äußeren Schließmuskels erschöpft. Dieses Phänomen bezeichnet man als Überlaufinkontinenz. Hier hilft nur die manuelle Stuhlausräumung.

Auf neurologischen Stationen, z.B. bei Demenzkranken, wird dieses Phänomen nicht selten verkannt. Fälschlicherweise wird täglicher Stuhlgang vermerkt, indessen sich im Enddarm der Kot anhäuft, was erhebliche Schmerzen verursachen kann. Weitere Ursachen für Koprostase mit oder ohne Überlaufinkontinenz sind Ballaststoffmangel (vor allem wasserunlösliche) in Verbindung mit einem Flüssigkeitsdefizit (Ernährung), eine obstruktive Entleerungsstörung, eine schmerzreflektorische Verkrampfung der Muskulatur bei einer Fissur oder nach analen Eingriffen und eine altersbedingte Abnahme der plastischen Elastizität des Rektumreservoirs.

Muskuläre Inkontinenz

Gründe für eine muskuläre Insuffizienz können in Verletzungen der Schließmuskeln liegen entweder nach einem Trauma, nach einer Fisteloperation oder nach einem Dammriss infolge einer Entbindung. Durch Messung des Schließdruckes in Ruhe und beim Kneifen lässt sich bestimmen, ob die Sphinkteren intakt sind. Umschriebene Sphinkterschäden lassen sich mit Hilfe eines Ultraschalls gut orten.

Die  allgemeine (neuropathische) Beckenbodenschwäche trifft vor allem Frauen in höherem Lebensalter, hier besonders Mehrfachgebärende oder Frauen, die unter  langen Presswehen litten. Es scheint, als ob der Ermüdung und dem Abbau der Muskulatur eine Neuropathie zugrunde liegt, wie es beim Diabetes mellitus der Fall sein kann. Mit Hilfe von Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit konnte gezeigt werden, dass es nach schweren Entbindungen in der Tat zu einer Schädigung des Nervus pudendus (innerviert den äußeren Schließmuskel und den M.puborektalis) kommen kann, die sich in der Regel nach 2 Monaten zurückbildet. Bei inkontinenten Patienten kann eine solche Messung zeigen, ob die motorische Schwäche des Beckenbodens eher Folge reiner muskulärer Ermüdung oder Folge einer Neuropathie ist. Zur Funktionsbestimmung des äußeren Schließmuskels eignet sich jedoch methodisch bedingt eher die Elektromyografie (EMG).

Auch jahrzehntelanges exzessives Pressen bei der Defäkation kommt aufgrund  fortgesetzter Überdehnung der Muskulatur und ihrer nervalen Versorgung  als Auslöser einer Insuffizienz der Beckenbodenmuskulatur in Frage.

Durch die Senkung des Beckenbodens flacht sich der anorektale Winkel ab, womit der passive Verschlussmechanismus außer Kraft gesetzt wird (Kontinenzorgan). Auch Ruhe- und Kneifdruck des Afters sind meist vermindert.

Therapie

Beckenbodentraining, evtl. in Verbindung mit Biofeedback-Verfahren stehen therapeutisch an erster Stelle, immer natürlich auch in Verbindung mit geeigneter Ernährung, Verhaltenskon- trolle und, falls erforderlich, stopfenden Maßnahmen.

Bei umschriebenen Defekten des inneren und äußeren Schließmuskels hat ein operativer Korrektureingriff mit überlappender Naht der Sphinkteren gute Aussicht auf Erfolg.

Bei allgemeiner muskulärer Beckenbodeninsuffizienz  kann man versuchen, die Becken- bodenmuskeln plastisch zu raffen, vorne und hinten oder kombiniert. Die Erfolge sind jedoch eher bescheiden und wechseln stark von Operateur zu Operateur. Zudem ist es entschei- dend, herauszufiltern, wem diese Methoden der Voraussicht nach am besten helfen können.

Ein anderes Verfahren, das sich als relativ erfolgreich erwiesen hat  – allerdings unter Inkaufnahme einer hohen Komplikationsrate (50%) -,  ist die sogenannte dynamische Gracilis-Plastik. Dabei wird ein langer, dünner, von der Leiste zum Knie verlaufender Oberschenkel- muskel (Musculus gracilis) aus seinem Bett gelöst, hochgezogen und um den After geschlungen. Um dem quergestreiften Muskel einen Dauertonus zu geben, wird er mit einem elektrischen Impulsgeber verbunden, der unter der Bauchdecke eingepflanzt wird. Zur Entleerung kann der Patient mittels Fernbedienung die ständige Signalgebung unterbrechen.

Vorausgesetzt der äußere Schließmuskel ist funktionstüchtig, stellt das noch junge Verfahren der sacralen Nervenstimulation (SNS) für eine ausgesuchte Gruppe von Betroffenen ein vielversprechendes Verfahren dar. Dabei werden die Nerven der Beckenbodenmuskulatur und des äußeren Schließmuskels im Bereich des Kreuzbeins (Sacralplexus) über einen Impulsgeber (Schrittmacher) stimuliert. Eine Besonderheit ist, dass zunächst nur in einem kleinen Eingriff  durch die Haut hindurch Elektroden plaziert werden müssen, die über Drähte von außen die elektrischen Impulse des Schrittmacheraggregats empfangen. Erweist sich die Testphase als erfolgreich, wird das Gerät dauerhaft implantiert und fernbedient.

Da der Schienbeinnerv (Nervus tibialis), der zum Knöchel zieht, auch dem sacralen Nerven- geflecht entstammt, werden derzeit Möglichkeiten ausgetestet, wie effektiv sich die Sacral- nerven über transkutan eingebrachte Elektroden – oder reine Klebeelektroden – oberhalb des Knöchels stimulieren lassen (PTNS), indem der Unterschenkelnerv in umgekehrter Weise als Leitbahn benützt wird.

Scheitern alle Maßnahmen, kann nach langem Leidensweg ein künstlicher Ausgang trotz der damit einhergehenden Unbill Erlösung bedeuten.

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